Getrieben
[Kurzgeschichte, veröffentlicht in etcetera #60: unentwegt, 2015]

Getrieben
Sie hat mich zwar verlassen, aber das macht nichts! Das sage ich mir immer wieder, um zu erklären, was mit mir geschieht. Denn ich verstehe nicht, was mit mir geschieht. Dieses unbestimmte Gefühl, dass ich mich schlecht fühlen müsste, dass ich mir unsicher über die Zukunft werde, dass es mir körperlich mies geht – dieses unbestimmte Gefühl bestimmt meinen Alltag. Einen Alltag, den ich nur meistern kann, weil ich mir immer wieder sage, dass es mir nichts ausmacht. Um die Gedanken wenigstens für einige Stunden zu verdrängen!
Als sie mir sagte, dass sie mich verlassen würde, um zu einem anderen zu ziehen, war ich gerade so vertieft in meinem Projekt auf der Arbeit, dass ich nicht mal angemessen reagierte. Ich sagte so etwas wie »Ja, Schatz, mach das!«, und sie rastete augenblicklich aus. Dass ich mich nicht mal an das erinnere, was ich gesagt habe, macht deutlich, wie wenig ich von den Entwicklungen im Vorfeld mitbekommen hatte. Doch diese Missachtung, die sie durch meine Antwort zusätzlich empfand, ganz so, als würde ich sie auslachen wollen, als wären ihre Worte nichts weiter als ein seltsamer Scherz, ließ das Fass überlaufen. Es schwappte auf mich eine Welle Wut und tiefster Zorn, den ich bisher noch nie in dieser Form verspürt hatte. Ich war wie betäubt und konnte mich nur freischwimmen, indem ich alles zusagte, was sie mir an den Kopf warf. Dann saß ich alleine in der Wohnung und sollte es auch bleiben.
Ich wartete wachsam auf das Gefühl des Zusammenbruchs, des Umfallens meiner Selbstsicherheit, die eher einer Betonfassade vor meiner eigentlichen Gefühlswelt gleicht, doch es kam nichts. Ich ging weiter zur Arbeit, beendete mein Projekt und sitze nun hier mit diesem unbestimmten Gefühl, dass etwas fehlt.
Das Absurde ist, dass dieses Gefühl, dass etwas fehlt, mich beginnt fertigzumachen. Nicht, dass mich meine Frau verlassen hat, nicht, dass sie mich finanziell und materiell ausgezogen hat, nicht, dass sie versucht hat, mich emotional auf ganzer Front anzugreifen, sondern das Fehlen einer angemessenen Reaktion. Bin ich in meinem Innern abgestorben? Ich fühle doch das Fehlen – also habe ich doch Gefühle! Ich bin ein Mensch, der fühlt!
Ich gehe wieder zur Arbeit und suche nach einer Beschäftigung, um mich aus meinem Hamsterrad hervorzuholen. Es will mir nicht gelingen, da das Projekt beendet ist, die Vorgesetzten mir auf die Schulter geklopft haben und mitteilten, dass ich jetzt erst einmal einen Gang zurückschalten solle, ehe ich das nächste Projekt stemme. Ich antworte nur, dass ich auch gleich wieder in ein neues Projekt gehen könne, doch meine Chefin sagt nur, dass sie mich nicht verheizen möchte. Ich will ihr antworten, dass ich das schon selber erledige, das mit dem Verheizen, schweige aber.
Ich verheize mich selber! Das entspricht ungefähr dem unbestimmten Gefühl, das in mir lodert. Drehend in meinem Hamsterrad über einem Scheiterhaufen laufe ich vor mir selbst davon. Ich weiß darüber Bescheid, kann dem aber nicht entfliehen.
Ich frage mich, ob es eine Exit-Strategie gibt. Ein Break-even-point, an dem sich das unbestimmte Gefühl wieder normalisiert. Oder steuere ich auf mein eigenes Exit, meinen eigenen Break-even-point zu? Was, wenn ich ihn erreiche? Kann ich dann endlich über meine gescheiterte Ehe trauern? Hinter der Betonfassade, für mich allein?