Die Legende von Liu Liang
[Kurzgeschichte, veröffentlicht in Das Buch der vergessenen Geschichten, 2024]
Die Legende von Liu Liang
Es war in einer Zeit, als Wang Anshi der oberste der chinesischen Beamten und damit Kanzler des Großreiches China war. Kaiser Shenzong vertraute dem Kanzler so sehr, dass er dessen Reformwillen duldete, dem es vor allem darum ging, die Lebenswirklichkeit der Kleinbauern so zu verbessern, dass sie im Angesicht der Großgrundbesitzer, die eine allzu große Last für das Reich geworden waren, zu überleben vermochten. Denn wie in fast allen Reichen der Weltgeschichte trugen die Kleinbauern und Handwerker, diejenigen also, die täglich ihre Lebenskraft dem Boden und dem Wohlergehen der Menschen widmeten, die Hauptlast der Steuern und der Frondienste.
In dieser Zeit also lebte unter der Herrschaft des Kaisers Shenzong in einer vom Hof weit entfernten Stadt namens Lishui ein Junge namens Liu Liang, der sich mehr schlecht als recht durchs Leben schlug. Als er alt genug wurde, um auf den Feldern des größten Landbesitzers in der Umgebung Reis anzubauen, nahmen ihn seine Eltern mit zur Arbeit. Von morgens vor dem Sonnenaufgang bis so lange in den Abend hinein, wie man noch seine eigene Hand vor den Augen sehen konnte, arbeitete er mit seinen Eltern auf den Feldern.
Wenn die Familie dann im Dunkeln nach Hause ging, erschöpft von den Anstrengungen und Entbehrlichkeiten des Tages, wusste kaum einer genau, ob es an diesem Tag für eine ausreichende Mahlzeit reichen würde oder ob sie alle wieder einmal hungrig schlafen gehen mussten. Sie gelangten müde und erschöpft zu ihrem kleinen, kargen Heim und wären fast schon eingeschlafen, wenn sie nicht alle eine gute Tasse Tee bekommen hätten, die ihre matten Lebensgeister wiedererweckte.
Schweigend nahmen sie das abendliche Essen ein, tranken Tee und während sich die Eltern früh schlafen legten, setzte sich Liu Liang noch eine Weile nach draußen und horchte in die Welt. Dabei geschah es, dass er eines Abends, als ein kräftiger Wind aufkam, meinte, in dem Pfeifen des Windes Stimmen zu hören. Liu Liang stand auf und horchte tiefer in den Wind hinein, konzentrierte sich auf das Wispern der Lüfte und glaubte, das Wort Tee aus ihm herauszuhören. Dann war mit einem Mal der Spuk vorbei, und es ward windstill, wie den ganzen Tag zuvor.
Liu Liang stand noch eine ganze Weile gedankenverloren vor dem kleinen Haus seiner Familie, ehe ihn die Müdigkeit übermannte und er schlafen ging. In der Nacht träumte er vom Tee. Von der Pflanze, von ihrem Geschmack, von den Variationen der Beimischungen, von der Zubereitung, von dem Wissen darum, einen guten Tee machen zu können.
Am nächsten Morgen, als seine Eltern Mühe und Not hatten, den jungen Heranwachsenden aus dem Schlaf zu bekommen, stand dieser auf wackeligen Beinen und erklärte seinen Eltern, dass er ab nun nicht mehr auf dem Reisfeld arbeiten, sondern sich in die Lehre eines Teezeremonienmeisters begeben wolle. Die Eltern waren nicht wenig erstaunt über diesen Wunsch ihres Sohnes, der bisher so gar nicht daran gedacht hatte, dass das einmal sein Wunsch wäre.
An diesem Tag sollte Liu Liang noch mit aufs Feld kommen, damit man seinen neuen Plan besprechen könne, doch er weigerte sich und lief von zu Hause fort. Die Eltern schrien dem Jungen hinterher, aber er hörte nicht mehr und lief immer weiter, so weit ihn die Füße trugen.
So gelangte er zu dem ersten Teezeremonienmeister, der ihn nicht mal anhörte, während ihm der zweite wenigstens sagte, dass er weder ausreichend alt noch ausreichend klug genug wäre, um das hohe Amt des Teezeremonienmeisters auszuüben. Liu Liang sah schon vor seinen Augen, wie die Bestimmung des Windes zu platzen schien und er zu seinen Eltern, um Verzeihung bettelnd, zurückkehren müsste. Vom vorletzten Teezeremonienmeister der Stadt, von dem er auch rundweg eine Ablehnung erhielt, erfuhr er jedoch, dass es einen einsam lebenden Meister gab, der sein Handwerk aber seit langen Jahren beigelegt hatte, in dem Glauben, dass es bald jemanden geben würde, der um so viele Längen besser sein würde, dass er sich nicht der Lächerlichkeit seiner eigenen Unfähigkeit preisgeben wollte.
Und da der Zurückgezogene fest an diese Bestimmung glaubte, so fest, wie Liu Liang die Nacht davor dachte, dass der Wind ihm seine Bestimmung eingeflüstert habe, war es kein allzu großes Wunder, dass er den kleinen Jungen in sein ärmliches, abgelegenes Haus bat, als dieser an seine Türe klopfte und fragte, ob er bei ihm in die Ausbildung gehen könne.
Zunächst bröckelte die Zuversicht des Zeremonienmeisters, denn Liu Liang war nicht der klügste oder cleverste Kopf, den er erwartet hatte, sondern ein einfacher Reisbauernjunge, der einen Traum lebte. Zäh gestaltete sich der Unterricht und das einzige, was Liu Liang wirklich bewies, war, dass er kein allzu großes Talent für die eigentliche Zeremonie hatte. Nein, sein Talent lag in einem völlig anderen Bereich: dem Verköstigen von Tee.
Nun erkannte der Teezeremonienmeister die wahre Bestimmung seiner Lehrerschaft und nahm diese an, indem er alle seine kargen Ersparnisse in die verschiedenen Teesorten steckte, um dem Jungen alle möglichen Geschmacks- und Duftsorten vor die Nase zu setzen. Die anderen Zeremonienmeister der Stadt lachten umso mehr über den eigenwilligsten unter ihnen, doch ihr Lachen sollte just an dem Tag verstummen, als in der Stadt bekannt gegeben wurde, dass Liu Liang, Sohn der Stadt Lishui, an den Hof des Kaisers ziehen würde, um dort einen Wettbewerb zu bestreiten, dessen Schirmherr der Kanzler höchstpersönlich war.
Obwohl er jahrelang seinen Sohn ob seiner Flucht verschmäht hatte, kam der Vater am Tag der Abreise seines Sprosses zum Hofe des Kaisers und stand in der jubelnden Menschenmenge. Liu Liang, der seinen Vater in der Menge entdeckte, wie dieser versuchte, seinen Sohn bei dessen Triumph zu erleben, erkannte ihn, lief zu ihm hin und beide umarmten sich so innig, als wären alle aufgebauten Hürden der letzten Jahre seiner Flucht von zu Hause mit einer Träne niedergerissen worden. Der Vater wünschte dem Sohn viel Glück auf seiner langen Reise und lächelte noch Tage später, wenn er daran dachte, wie sich Liu Liang im Bauch eines kleinen Lastkahns Richtung Kaiserstadt bewegte.
Der Wettbewerb fand zunächst als Vorwettbewerb ohne Beteiligung des Kaisers statt, und Liu konnte sich in den Disziplinen Geschmackserkennung und Sortenerkennung für weitere Aufgaben qualifizieren. Da die Gruppe von Teemischern und Teeverköstigenden am Hofe des Kaisers sehr überschaubar war, wunderten sich alle über die Anwesenheit des Provinzlers, der sich mühelos für die Audienzen vor den Augen des Kaisers qualifiziert hatte.
Am Abend dann kamen sie zu ihm, Abgesandte von höheren Beamten oder die Beamten sogar selbst, um zu erfahren, welche Geheimnisse dieser junge Mann aus Lishui mit sich führte. Doch der Junge wie auch sein Teezeremonienmeister waren nichts anderes als die pure Höflichkeit und beantworteten alle Fragen ohne Argwohn, sodass die Menge der Fragenden sich zurückzog, ohne etwas Genaueres über den Konkurrenten um die besten Plätze im Wettbewerb in Erfahrung gebracht zu haben.
Da Liu Liang an dem folgenden Tag für zwei der fünf Wettbewerbe qualifiziert war, durfte er auch noch an einem dritten teilnehmen. Er entschied sich gegen den Rat seines Teezeremonienmeisters für die Klassen aller Klassen – der Teemischung, in der die Konkurrenz schier unschlagbar schien.
Als es daran ging, die Teemischung herzustellen, die er dem Kaiser und seinen Beamten präsentieren wollte, nahm Liu Liang als Basis einen ausgewogenen Lung Ching, suchte unter allen Ingredienzien ein aromastarkes Jasminöl heraus, tröpfelte nur wenige Tropfen über den Tee und ließ das Öl durch langsames, behutsames Wenden in den Tee einziehen. Dann setzte er sich neben den Tisch, auf dem seine Mischung lag, in den Lotussitz und schaute den anderen Mischern zu, wie sie eine nach der anderen Zutat hinzufügten, probierten, verwarfen, neu kreierten, probierten und verwarfen, ehe die Zeit kurz vor dem Ablauf war und die betriebsame Hektik in eine nervöse Grundstimmung umschlug.
Pünktlich endete die Vorbereitungszeit mit einem Gong, und als der Kaiser eintrat, beugten sich alle mit dem Gesicht zu Boden, sodass sie nicht sehen konnten, wie der Kaiser an den Tischen vorbeiging, um die neuen Kreationen zu verköstigen. Der Lautstärke nach zu urteilen, gab es wohl einen Favoriten, denn an einem Tisch in der Nähe hatten einige Stimmen sehr wohlwollend, gar entzückt geklungen. Nun aber kam der Beamtenverbund an Liu Liangs Tisch, und kaum, dass sich alle eine Tasse genommen und probiert hatten, spukten sie den Tee wieder aus und gingen schnatternd und zeternd von dannen. Allein einer blieb vor dem Tisch des Jungen stehen, probierte den Tee, setzte die Tasse ab und spuckte nicht aus, sondern hieß den Jungen sich zu erheben.
Als Liu Liang aufstand, sah er sich dem Kaiser gegenüber, der ihn eingehend musterte. Wo er denn herkomme, wollte der Kaiser wissen, und Liu antwortete pflichtgemäß. Dann wollte der Kaiser wissen, warum Liu ihm einen solchen Tee zum Probieren vorgesetzt hätte. Auch dieses Mal antwortete Liu wahrheitsgemäß, indem er dem Kaiser erklärte, dass er es für besser hielte, den Geschmack eines guten Tees nicht durch die Beigabe von starken Duftstoffen zu verstecken, sondern beides klar nebeneinanderzustellen. Der Tee habe immerhin ein Anrecht auf Entfaltung seines Geschmacks, erklärte der Junge und sah, wie der Kaiser zu lächeln begann.
Inzwischen waren die Beamten, die eben noch schimpfend und spuckend von dem Tisch fortgelaufen waren, zurückgekehrt und versuchten sich erneut an Lius Tee. Obwohl er ihnen auch dieses Mal nicht zu schmecken schien, wie Liu Liang an den verzogenen Gesichtern herauslesen konnte, waren sie nun vorsichtiger in ihrem Urteil, denn es konnte der Fall eintreten, dass der Kaiser den Jungen dafür lobte, dass er einen solch einfachen, aber ausgewogenen Tee kreiert hatte.
Alle Beamten blickten nun zum Kaiser, wie er entscheiden würde, und Shenzong legte eines seiner wenigen Lächeln auf, ehe er verkündete, dass er den diesjährigen Sieger gefunden habe. Alle Augen, die nicht auf den Boden gerichtet waren, blickten zu dem Jungen aus der fernen Provinz, doch obgleich der Kaiser verstanden hatte, was Liu Liang mit seiner einfachen Kreation sagen wollte, so entschied er sich dazu, denjenigen auszuzeichnen, bei dem es vorher den Aufschrei der Freude gegeben hatte.
Erst viel später am Abend, nachdem Liu Liang bei den beiden anderen Wettbewerben keine allzu großen Chancen auf den Sieg gehabt hatte, kam ein Bote des obersten kaiserlichen Beamten bei Liu Liang und seinem Zeremonienmeister vorbei und überreichte den beiden eine Schriftrolle. Ehe die beiden diese öffnen konnten, empfahl sich der Bote und verschwand im Dunkel des Abends. Einen heftigen Kloß verspürten die beiden in ihren Hälsen, als sie das Papyrus entrollten, auf dem eine persönliche Nachricht des Kaisers stand, in der er Liu Liang und seinem Mentor dafür dankte, ihm die Bedeutung des Einfachen zurückgebracht zu haben. Dass diese Kreation jedoch nicht gewinnen konnte, lag ganz einfach daran, dass es zu mehr Streit als Aussöhnung unter den Beamten geführt hätte, sodass der Kaiser für seinen Hofstaat den Frieden anstatt die mögliche Erneuerung erwählte.
Als Liu Liang diese Worte des Kaisers vernahm, spürte er in seinem Inneren, dass er seine Aufgabe mehr erfüllt hatte, als wenn er bei einem der drei Wettbewerbe als Sieger hervorgegangen wäre. Denn einem Mächtigen das Einfache wieder näher ans Herz zu rücken, ist eine viel größere Leistung, als dem Einfachen das Mächtige zu ermöglichen.
Liu Liang und der Teezeremonienmeister blieben so lange am Hof, dass ihre Abreise nicht als Flucht gewertet wurde, und als sie beide zurück nach Lishui gelangten, lief Liu Liang zu dem Haus seiner Eltern und fiel zunächst der Mutter und dann dem Vater um den Hals, um beide danach nie wieder zu verlassen.