Die Kranichfrau
[Kurzgeschichte, veröffentlicht in Nächstenliebe. Anthologie, 2024]
Die Kranichfrau
I
Osamu folgte dem kaum sichtbaren Weg nach Hause. Er kam von einem Streifzug über den frühwinterlichen Hafenmarkt, auf dem er nach Resten Ausschau gehalten hatte, mit denen er seine Seile machen konnte. Seile, die sein Überleben sicherten. Mehr nicht.
Das einzige, das Osamu besaß, war das Haus seiner Eltern, das sie ihm nach ihrem Tode vermacht hatten. Seither war er alleine auf der Welt, arbeitete jeden Tag und fand nur ab und an die Ruhe des Lebens, wenn er vor seinem Haus auf einem alten Holzschemel saß und eine Tasse Tee trank, während er dem aufsteigenden oder niederfallenden Dunst der Morgen- oder Abenddämmerung über dem angrenzenden See zusah.
Vom Hafen ging Osamu in Richtung seines Hauses, leicht bergan, denn es lag am Fuße eines Berges. Als er nach Hause kam, spürte er die Kälte in seinem Körper, die der Winter mit sich brachte, und indem er eine Kanne mit heißem Tee zubereitete, hielt er ein und dachte darüber nach, was er mit den gefundenen Materialien anfangen würde. Den dampfenden Tee nahm er mit und trat wieder nach draußen, setzte sich auf den Holzschemel und blickte über den See in die Ferne. Auf dem See sah er Enten, Kraniche und andere Vögel, die in großer Seelenruhe auf dem sich kräuselnden Wasser dahinglitten.
Der Tee wärmte ihn von innen, und Osamu spürte wieder seine Glieder, die aufgrund der Kälte und seines Alters, aber vor allem aufgrund seiner schweren Arbeit schmerzten. Die Kälte zugleich hassend, aber auch liebend, weil sie ihm die Schmerzen betäubte, sah er nach oben in den wolkenlosen Himmel, als just in diesem Augenblick ein Vogel im ungewohnten Flug in der Nähe niedersank. Der Vogel fiel mehr, als dass er kontrolliert sank, und ohne dass Osamu sah, wie dieser auf den Boden fiel, ahnte er, dass das Tier verenden würde, wenn er ihm nicht half. Er stand auf und lief in die Richtung, in der er das Tier vermutete, und als er es fand, sah er, dass es sich um einen Kranich handelte, dem ein Pfeil in die Seite, unterhalb des rechten Flügels, stach.
Das Tier rang zu sehr mit dem Tode, sodass Osamu aufpassen musste, als er sich dem Kranich näherte. Er erreichte ihn, besah die Wunde und entschied, dass es besser sei, den Pfeil erst zu Hause herauszuziehen. Somit packte er den Kranich mit seiner harten Hand und mühte sich, diesen so zu halten, dass dessen Schmerzen erträglich waren, doch wie ihn selbst die Kälte in einen Schock versetzt hatte, so war auch der Kranich derart geschockt, dass Osamu keine Schwierigkeiten hatte, den Vogel mit nach Hause zu bringen.
Dort angekommen legte er den Vogel vor sein Haus auf einen Holzblock, den er mit einer Decke unterlegte, nahm sich ein Tuch aus dem Innern des Hauses und zog den Pfeil zunächst langsam, dann am Ende schnell heraus. Das Blut quoll aus der Wunde, auf die Osamu das Tuch drückte. Da in Reichweite der gekochte Tee stand und Osamu von dessen heilsamer Wirkung gehört hatte, nahm er diesen und goss den erkalteten Tee behutsam über das Tuch, das sich damit vollsog.
Eine lange Zeit drückte Osamu das Tuch auf die Wunde und goss weiter Tee darüber, bis die Wunde zu bluten aufgehört hatte. Er merkte, dass der völlig entkräftete Kranich schwach atmete, aber entspannt vor ihm lag, trug diesen ins Haus und betete ihn so weich, wie es ihm möglich war.
Die nächsten Tage pflegte er den Vogel und sah zu, wie dieser wieder zu Kräften kam. Tag für Tag bot Osamu seine letzten Seile auf dem Markt feil, um die Einkünfte gegen frisch gefangenen Fisch einzutauschen. Nach zwei Wochen war es dann so weit, dass der Kranich wieder auf seinen Beinen war, als Osamu nach Hause kam. Er freute sich über dieses unerwartete Ereignis wie selten zuvor in seinem Leben und führte mit dem Vogel, der das Zutrauen zu Osamu zu haben schien, eine Art Tanz auf.
In dieser trauten Eintracht ging es noch eine knappe Woche weiter, ehe Osamu merkte, dass der Kranich gesund genug war, um wieder über dem See seine Kreise zu ziehen. Schweren Herzens öffnete er die Türe und ließ den Vogel aus seinem Haus, sah mit an, wie dieser auf den Vorplatz hüpfte, sich ein letztes Mal umdrehte, seine gewaltigen Schwingen ausbreitete und abhob. Zunächst etwas unsicher, dann mit immer sichereren Flügelschlägen erhob sich der Kranich und flog über den See davon. Osamu starrte ihm noch eine Weile hinterher, auch dann noch, als der Kranich bereits lange aus seinem Blick verschwunden war.
II
Die nächsten Tage hatte Osamu schwer an seinem Verlust zu tragen. Jeden Abend saß er auf dem Holzblock und blickte über den See. Er suchte den einen Kranich unter den vielen, und immer, wenn er ihn zu finden glaubte, war es ihm, als würde dieser ihm zuwinken. Doch dann drehte der Kranich ab und flog eine weitere Runde über dem See.
Der Winter zog weiter herauf, und Osamu hatte es immer schwerer, auf dem Markt seine Waren loszuwerden, da im Winter nur sehr wenige Schiffe zum Fischfang ausfuhren und die Zeit der Reparaturen noch bevorstand. Jeden Abend musste er deswegen hungern und hatte nur Tee zum Trinken, der ihm wenigstens die Wärme in seinem Körper schenkte.
An einem unerwartet sonnig-milden Wintertag saß Osamu dann schweigend in seinem Haus und ließ seine Gedanken ins Nichts wandern, als es urplötzlich an seiner Türe klopfte. Er schrak auf und wunderte sich, denn er erwartete sonst niemals Gäste und dachte bereits an einen Bittsteller, den er jedoch abwimmeln würde, da er ja selbst nichts hatte. Doch als er die Türe öffnete und durch den Spalt nach draußen blickte, stand kein Bittsteller vor der Türe, sondern eine anmutige Frau, die Osamu noch nie in seinem Leben gesehen hatte. Sie hielt ihm eine Hand mit Reis entgegen und bat um einen Unterschlupf für die Nacht. Gebannt von der völlig unerwarteten Situation bedurfte es einer zweiten Frage, ehe Osamu aus seinen Träumen erwachte und die unbekannte Frau in sein Haus ließ. Sofort ging er daran, ein kleines Feuer anzuzünden, und setzte eine Kanne Tee auf. Ohne große Worte miteinander zu sprechen, setzte sie einen zweiten Topf auf, in dem sie Reis kochte, den die beiden zusammen mit dem Tee zum Abendessen genossen.
Lange schon hatte Osamu keinen Besuch mehr bei sich zu Hause gehabt, und so unbeholfen er sich als Gastgeber anstellte, so leicht machte sie es ihm, indem sie ihm half, stets das Richtige zu tun. Auch wenn Osamu es nicht zugeben konnte oder wollte – gleich mit dem Eintritt der Frau in sein Haus war er über beide Ohren in sie verliebt.
Da die unbekannte Frau, deren Name Yukiko war, kein Ziel für den Winter hatte, bat sie Osamu, ein paar Tage bleiben zu dürfen, dem er sogleich zustimmte. So begannen sie zusammen zu leben, gewöhnten sich aneinander, und seine Liebe zu ihr wuchs von Tag zu Tag. Obwohl beide arm waren und sie nur sehr selten mehr als Reis und Tee für die karge Mahlzeit hatten, hatten sie sich selbst – und das war fürs Erste genug.
Eines Tages jedoch wollte er auf den Markt, um seine Seile feilzubieten und günstige Reste einzutauschen, als Yukiko ihm vorschlug, aus etwas Seide, die sie noch besaß, einige Kleider zu weben. Osamu stimmte freudig zu und ging auf den Markt. Den ganzen Tag über war er aufgrund der Nachricht beschwingt und verkaufte mehr Seile als sonst. Zudem trieb er mehr gebrauchtes Material für neue Seile auf und ging freudestrahlend nach Hause.
Als er dort ankam, erwartete ihn Yukiko bereits und brachte ihn ins Haus hinein, wo er seinen Augen kaum trauen konnte, denn sie hatte nicht nur einfache Seidenkleider gewoben, sondern herrschaftliche Kleider, die ein Vermögen wert sein mussten. Yukiko meinte, dass Osamu auf dem Markt gut und gerne einhundert Ryo dafür erhalten könne – und so war es auch, als er diese Kleider auf dem Markt feilbot.
Alle Marktschreier verstummten, als sie sahen, was Osamu auf dem Markt anbot und wie schnell er diese herrlichen Kleider an die hochherrschaftlichen Damen verkaufte. Es war, als ob sich der Himmel geöffnet hätte, um Osamu für einen Moment in seinem Leben im vollen Glanze des Lichtes dastehen zu lassen. Osamu wartete nicht, bis einer seine billigen Seile kaufen wollte, sondern ließ diese auf dem Markt liegen, um mit dem erworbenen Geld an den anderen Ständen guten Reis, besseren Tee und Dinge zu kaufen, die sonst nie auf ihrem Teller landeten.
Mit prallgefüllten Taschen lief er zurück nach Hause, berichtete Yukiko von seinem Verkaufserfolg und legte den neuen Reichtum nebst den Köstlichkeiten auf den Tisch. Für diesen Abend war alles in bester Eintracht, und die beiden genossen die reichen Speisen. Dazu tranken sie den besten Tee, den sie in ihrem Leben bisher genießen durften.
Als Osamu am nächsten Morgen aufwachte und sich auf den Vorplatz schlich, um den Kranichen und den anderen Vögeln beim Fliegen und Tauchen zuzusehen, war es ihm, als wäre er ein anderer Mensch – befreit von der Last der Armut und beseelt von einer Glückseligkeit, die er noch nie gespürt hatte. Yukikos Talent, aus Nichts hervorragende Seidenkleider zu machen, mutete wie ein Traumgebilde an, und er musste sich des neuen Reichtums vergewissern, um an dessen Wirklichkeit zu glauben.
An diesem Tag ließ Osamu die Arbeit sein und genoss die müßige Stille des Tages. Dass er seine Arbeit auf dem Markt gelassen hatte, war ihm gleichgültig; auch dass er im Moment keine Rohstoffe hatte, um neue Seile zu machen, schien nicht von Interesse. Er verbrachte den Tag ohne Arbeit und genoss am Abend das fürstliche Mahl, das ihm reichte. Sie beide waren auch an diesem Abend glücklich; am folgenden und den darauffolgenden auch noch.
III
Doch nach einer Weile fragte sich Osamu, wie lange sie wohl beide dieses Leben fortführen konnten. Dass die Ryos nicht bis zum Ende aller Tage reichen würden, war ihm klar, und so fragte er Yukiko, ob sie nicht noch mal Seidenkleider weben könnte. Zunächst stand sie der Idee reserviert gegenüber, gab aber nach, als Osamu mit Nachdruck in sie drang. Er müsse ihr nur versprechen, dass er sie beim Weben nicht beobachte, sonst würde sie die Kleider nicht machen. Osamu versprach es und ging während des Webens durch die Hafengegend spazieren. Dabei präsentierte er sich als neureicher Lebemann, gab hier und da etwas Geld aus und sah danach, was die anderen auf dem Markt machten. Doch wie es für ihn klar war, dass er nicht mehr zu den hart schuftenden auf dem Markt gehörte, so war er nun auch für die Verkäufer nichts weiter als ein neureicher Kunde, dem man vielleicht etwas andrehen konnte. Angewidert von den Verkäufern und deren Aufdringlichkeit, die er früher selbst zur Schau gestellt hatte, ging er nach Hause zurück und fand dort erneut eine Handvoll feinster Seidenkleider vor. Freudestrahlend nahm er Yukiko in den Arm und drückte sie, ohne dass er merkte, wie schwach sie am ganzen Körper war. Sie lächelte nur qualvoll und war die nächsten Tage krank.
Osamu hingegen war in diesen Tagen nicht viel zu Hause, sondern nahm die Seidenkleider und verkaufte sie direkt an die hochherrschaftlichen Damen, zu denen er nun nach Hause ging, denn auf dem Markt, unter den alten Gleichgesinnten, konnte und wollte er sich nicht aufstellen. Nach kurzer Arbeit war er alle Kleider los und erhielt sogar noch etwas mehr als bei der ersten Runde. Mit den Einnahmen ging er neuerlich einkaufen, gab noch mehr Geld aus als beim ersten Einkauf und kam nach Hause, wo Yukiko weiterhin das Bett hütete.
Osamu kochte ihr einen kräftigenden Tee und gab ihr etwas Stärkendes zu essen, doch dies geschah weniger aus Liebe als mehr zum Schutz seiner unerwarteten Geldquelle, die er um alles in der Welt beschützen wollte.
Nach einigen Tagen war Yukiko wieder auf den Beinen, aber es brauchte noch ein paar Wochen, bis zum Anfang des Frühlings, ehe sie vollständig gesund war. In der Zwischenzeit hatte Osamu sie dreimal gefragt, ob sie neue Seidenkleider weben würde, doch jedes Mal hatte sie ihn davon überzeugen können, dass sie noch nicht gesund genug sei. Doch sie hatte mitbekommen, wie Osamu mit jedem Fragen ungeduldiger und herrischer wurde, und da sie jetzt ihren Hauptgrund verloren hatte, gab sie trotz ihrer Bedenken ein weiteres Mal seinem Wunsch nach, neue Kleider zu weben.
Wie zuvor verließ Osamu das Haus und ging zum Markt hinunter, durchstreifte den Hafen und das Dorf, doch da ihm langweilig war und es nichts Neues mehr zu entdecken gab, fragte er sich, warum Yukiko nicht wollte, dass er beim Weben anwesend sei. Die Neugier packte ihn sehr stark und so ging Osamu entgegen seines Versprechens nach Hause zurück und schaute durch einen Spalt in den Wohnraum. Als sich seine Augen auf die veränderten Lichtverhältnisse eingestellt hatten, erschrak er bis ins Mark, denn was er sah, war nicht Yukiko, die dort Seidenkleider webte, sondern ein Kranich, der sich seines Fellkleides bediente, um die Kleider zu weben. Mit jeder Feder, die sich der Kranich ausriss, durchzog den Vogel ein großer körperlicher Schmerz, und es brauchte jeweils einige Augenblicke, ehe er an die Arbeit zurückkehren konnte.
Osamu sah dem schmerzvollen Treiben gebannt zu und wusste nicht, wie er reagieren sollte. Also beobachtete er den Vogel weiter und entdeckte dabei eine verheilte Wunde an einer Stelle des Körpers, an der bereits kein Federkleid mehr zu sehen war – genau an jener Stelle, an der die Wunde beim geretteten Kranich gewesen war! In diesem Moment erschrak Osamu derart stark, dass er mit dem Kopf gegen den Fenstervorbau stieß. Sogleich hielt der Kranich in seiner Arbeit inne und schaute zum Fenster.
Osamu war entdeckt! Das wusste er nun und ging niedergeschlagen zur Eingangstüre, die sich langsam öffnete. Indem ihn der Kranich traurig anblickte, wusste Osamu, dass er den Kranich und damit seine Lebenspartnerin verloren hatte; und nur wenige Augenblicke später spannte die verwandelte Yukiko ihre weiten Flügel auf, schlug einmal zum Abschied und erhob sich in die Lüfte, höher und höher, bis sie nicht mehr zu sehen war.
Osamu blieb lange auf dem Vorplatz stehen und blickte Yukiko hinterher. Doch er bekam nur den See und die Kraniche zu sehen, die darüber ihre Bahnen zogen, um auf Fischfang zu gehen. Tief in seinem Körper spürte er, dass er das verloren hatte, das ihm am meisten bedeutet hatte.