Amplituden
[Kurzgeschichte. Veröffentlicht in Rad der Zeit #5. Anthologie. 2025]

Amplituden
Es wurde mal wieder Zeit! Ich stand an diesem Tag erst sehr spät auf, nachdem ich am vorherigen Abend lange und unkontrolliert Wein getrunken hatte, in der Hoffnung, dass etwas in mir geweckt werden würde. Aber da war nichts in mir – ganz leer wirkte ich, und die Angst, dass meine Karriere ein Ende gefunden hatte – dass ich mich leergeschrieben hatte – bestimmte meine tiefe Angst. Eine andere, weitaus unbestimmtere und noch viel tiefer liegende Angst kam nun auch hervor und potenzierte, wie sich überlagernde Wellen, die eigentliche Angst. Diese tief in mir liegende Angst, die ich über aberhunderte Therapiestunden und drei Romane hinweg erforscht und beschrieben hatte und die trotz der Transparenz nicht verschwinden wollte, war eine Verlustangst, die aus meiner Kindheit herrührte, einer Kindheit, in der nichts sicher war – nicht in der Familie, nicht im Wohnort, nicht bei den anderen Beziehungen, nicht einmal bei der Sicherheit, dass nicht vergessen worden war, rechtzeitig einzukaufen.
Diese sich überlagernden Amplituden der Ängste ließen Schweißperlen auf meiner Stirn entstehen, die ich mit meinem Ärmel wegwischte, und ich wusste, dass es Angstschweiß war, kalt und unnachgiebig. Nichts half, nichts wollte gelingen, kein Kaffee, kein Zucker, keine Nahrung, kein Spaziergang zur Zerstreuung. Ganz im Gegenteil – auf dem Spaziergang ereigneten sich mehrere Situationen, in denen ich mich hinsetzen und durchatmen musste, ehe mir endlich klargeworden war, dass ich wieder mal eine Muse brauchte, eine weibliche Gestalt, die mir half, meine Ängste einzudämmen und sie dorthin zurückzusperren, wo ich sie kontrollieren konnte.
Das letzte Mal, als ich einen solchen Ausbruch verspürte, wäre ich beinahe erwischt worden; Daher verlangte ich von mir, dass ich mich zunächst in einen Zustand der Ruhe und Konzentration brachte, um mir zielgerichtet einen Plan zurechtzulegen, der mich unsichtbar mit meiner neuen Muse zusammenbrachte. Es musste zwangsläufig ein Ort sein, an dem spät abends wenig Aufmerksamkeit lag, und so entschied ich mich für den Park im angrenzenden Stadtviertel, in dem Jugendliche oft bis tief in die Nacht am unerlaubten Lagerfeuer saßen und sich ihrer jugendlichen Leichtigkeit des Lebens hingaben. Eine Leichtigkeit, die ich dringend für mein Schreiben benötigte, etwas, für das ich bereit war, immense Risiken einzugehen.
Ich verließ am Abend mein Haus, in dunklen Klamotten gekleidet, und ging, als würde ich einen Spaziergang machen, die Straßen entlang, hielt hier und da ein, wenn Menschen entgegenkamen, und gelangte nach einiger Zeit zum Park, sah mich um und erkannte anhand der Lichtkegel der Feuerstellen, dass es sich lohnen konnte. Um meinen Plan umzusetzen, lief ich auf direktem Weg nach Hause, schnappte mir mein Werkzeug und meinen Wagen, fuhr zum Park und parkte in einer Seitenstraße, die besonders dunkel war, da mehrere Lampen defekt waren. Dort, im abgedunkelten Bereich, überdachte ich die nächsten Schritte, prüfte, welcher Weg der kürzeste aus dem Park war, und legte mich in der Nähe davon auf die Lauer. Die ersten Jugendlichen, die den Park verließen, ließ ich noch ziehen – zum einen waren sie in Gruppen unterwegs oder sie gefielen mir schlichtweg nicht –, als plötzlich eine junge Frau auftauchte, die meine Muse sein konnte. Sie war allein unterwegs und starrte fast die ganze Zeit über auf ihr Handy, was mir half, mich im Schutz der Sträucher an sie heranzuschleichen, und ehe sie verstand, was passierte, hatte ich das Baumwolltuch bereits auf ihrem Mund und ich merkte, wie sie binnen weniger Augenblicke die Kontrolle über ihren Körper verlor. Ich hatte meine Muse! Doch wie bei jeder der acht Musen, die ich in meinem Leben bisher hatte, kam nun der gefährliche Teil, denn ich musste den bewegungslosen Körper zu meinem Auto bringen – an diesem Abend sollte jedoch alles ohne Auffälligkeiten ablaufen. Wenige Minuten später war ich bereits auf dem Weg nach Hause, doch ich fuhr nicht den direkten Weg, sondern durchquerte zwei weitere Stadtteile, ehe ich zurück zu meinem Haus fuhr, das Auto in die Garage lenkte und am Steuer sitzend tief durchatmete. Das Wichtigste war damit geschehen – meine Muse war bei mir zu Hause und in wenigen Stunden, wenn sie wach wurde, konnte ich mit meiner Arbeit beginnen.
Ich bereitete alles vor, brachte meine Muse in den Keller und fesselte sie an einem Sessel, ehe ich nach oben ging, etwas aß und mich kurz schlafen legte. Ich war so nervös, dass ich nur wenig schlafen konnte, und mit großer Vorfreude ging ich hinab in den Keller und sah meine Muse wach. Was für ein toller Anblick! Mein Herz hüpfte vor Freude, und ich setzte mich an meinen Schreibtisch, betrachtete lange meine neue Muse, ehe ich wie wild begann, das weiße Papier zu bekritzeln. Meine Schreibblockade war wie weggeblasen und ich arbeitete mehrere Stunden intensiv an einer neuen Geschichte, füllte Blatt um Blatt und vergaß beinahe meine Muse, die seit meinem Erscheinen noch kein einziges Wort gesagt hatte.
Erst weit nach dem Morgengrauen fiel mir dieser Umstand auf, und plötzlich war die Angst zurück, jene, die tief in mir lag, und ich vermochte kaum, meine Muse anzuschauen, denn sie starrte mich einfach nur an, die ganze Zeit, wie es damals meine Mutter getan hatte, wenn sie sauer auf mich gewesen war. Ich versuchte, mich wieder auf meinen Text zu fokussieren, doch die Buchstaben verschwammen auf dem Blatt vor mir, und in mir spürte ich einen Brand, der sich ausbreitete und meinen ganzen Körper ergriff. Bald schon begann ich zu zittern und auf meiner Stirn wischte ich kalten Angstschweiß weg, ehe ich begann, meine Unterlippe so lange zu malträtieren, bis sie aufsprang und ich Blut schmeckte. Ich wagte einen neuerlichen Blick auf meine Muse, doch sie hätte auch in Flammen stehen oder mit Blitzen aus ihren wunderschönen Augen schießen können – die Angst zerfraß nun auch den letzten Teil meines Selbstbewusstseins, und ehe ich mich versah, hatte ich ein Messer in der Hand, eins, das ich zum Schutz vor einem Angriff der Muse in der obersten Schublade liegen hatte, und rammte mir dieses Messer in meinen Bauch, dorthin, wo die Angst wohnte, jene Angst, die mir vor Jahrzehnten eingepflanzt worden war und die mich nie wieder – nie wieder! – herabsetzen würde! Ich sackte vor Schmerzen zusammen, doch ich liebte diese Schmerzen, da sie mir die Angst nahmen, und als ich den letzten Augenaufschlag machte und zu meiner finalen, neunten Muse blickte, hatte ich das Gefühl, dass sie meiner Mutter ähnelte, wie sie da so dasaß und mich schweigend anstarrte, als hätte ich etwas falsch gemacht.